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Entlassen, aber nicht frei: Herausforderungen nach dem Gefängnis

"Ich kam als Regisseur für ein Projekt nach Serbien – und acht Stunden später verließ ich den Flughafen in Handschellen."

Kseniia Levadna

Kseniia Levadna

Referentin Social Media

Entlassen, aber nicht frei: Herausforderungen nach dem Gefängnis

Wir treffen Andrey Gnyot im Libereco-Büro in Berlin. Erst zwei Monate sind seit seiner lang ersehnten Freilassung vergangen. Der belarusische Aktivist, Journalist und Filmemacher ist auch eine der führenden Stimmen der Freien Vereinigung belarusischer Sportler (SOS BY). Im Jahr 2020 berichtete er intensiv über die Proteste in Belarus, brachte Sportler*innen zusammen und setzte sich für demokratische Werte ein.

Im Oktober 2023 wurde er in Belgrad verhaftet und verbrachte ein Jahr in Haft sieben Monate in einem serbischen Gefängnis, gefolgt von fünf Monaten Hausarrest. Nun, wieder in Freiheit, beginnt er sein Leben neu aufzubauen und steht vor neuen Herausforderungen.

Dieser Artikel beleuchtet, wie die Zeit im Gefängnis das Leben verändert, welche Kraftquellen helfen, schwierige Zeiten zu überstehen und mit welchen Hürden ehemalige politische Gefangene nach ihrer Freilassung zu kämpfen haben.

Leben im Gefängnis: Von der Anpassung zum Widerstand

Andrey Gnyot erinnert sich, dass seine Inhaftierung mit einem totalen Schock begann. “Ich kam als Regisseur für ein Projekt nach Serbien – und acht Stunden später verließ ich den Flughafen in Handschellen”, erzählt er. Die Emotionen in diesem Moment waren nicht überraschend: Angst, Verwirrung, Unverständnis.

Während der sieben Monate, die er in einem serbischen Gefängnis verbrachte, durchlief Andrey drei Phasen – Erfahrungen, die seiner Meinung nach jeder Häftling macht. „Die erste Phase ist die Anpassung, die etwa drei Monate dauert. Anfangs lebt man in ständiger Angst, doch irgendwann begreift man, dass man nichts ändern kann. Man fügt sich den Umständen.“

Die zweite Phase ist eine Weggabelung: Manche versuchen, durch Disziplin ihre innere Stärke zu bewahren, andere hingegen geben auf und verlieren den Lebenswillen. „Im Gefängnis nennt man diese Menschen die ‘Aufgegebenen’. Sie vernachlässigen sich selbst, halten keinen Rhythmus ein, ernähren sich schlecht. Sie verlieren die Kraft zum Widerstand.“

Die dritte Phase ist der Kampf gegen die eintönige, aber zermürbende Gefängnisroutine. „Drei Jahre sind eine kritische Grenze. Danach kehren viele zurück, nicht weil sie erneut straffällig wurden, sondern weil das Leben in Freiheit zu kompliziert erscheint. Sie wählen die Rückkehr in ein System, in dem alles für sie entschieden wird.“

Andrey erinnert sich an ein Gespräch mit einem älteren Mitgefangenen: „Er war 65 Jahre alt. Er sagte mir, dass es ihm hier gefalle – er hat Freunde, mit denen er reden kann und keine Sorgen, vor allem im Winter, wenn die Menschen draußen ihre Heizkosten bezahlen müssen. Für ihn war das Gefängnis ein ‘sicherer Hafen’. Doch mir war eines klar: Ich musste mich anpassen, aber ich durfte mich niemals daran gewöhnen. Ich wollte nicht, dass das Gefängnis Teil meines wirklichen Lebens wird.“

Am schwierigsten war für Andrey die völlige Entmündigung – selbst in den kleinsten Dingen: „Man kann nicht duschen, wann man will. Manchmal hatte ich Glück und erwischte einen Moment mit warmem Wasser, aber selbst dann konnte ich mich nicht entspannen. Kaum hatte ich mich eingeseift, kam der Befehl: ‚Einkaufen!‘ Ich hatte eine Minute Zeit, um mich anzuziehen und loszugehen. Wer zu langsam war, blieb eine Woche lang ohne Essen.“

Neben den physischen Einschränkungen bedeutete das Gefängnis auch emotionale Isolation: „Man darf keine Gefühle zeigen, denn jede falsche Bewegung oder ein unbedachter Blick kann als Aggression oder Respektlosigkeit gewertet werden. Daraus kann schnell ein Konflikt entstehen – und Konflikte enden im Gefängnis selten gut.“

Fotos aus der privaten Sammlung von Andrey Gnyot:

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Andrey Gnyot unter Hausarrest in Serbien, 2024
Andrey Gnyot feiert seinen Geburtstag unter Hausarrest in Serbien, 2024.

Das Umfeld, in dem er sich befand, war besonders herausfordernd: „Meine Zellengenossen waren allesamt Berufskriminelle. Ihre Gespräche drehten sich nur um Verbrechen, ihre Unterhaltungen waren wie in Gangsterfilmen. Selbst als ich die Sprachbarriere überwunden hatte – mit einer Mischung aus Serbisch, Russisch, Belarusisch und Englisch – fanden wir keine gemeinsame Ebene. Ihre Welt drehte sich um Kriminalität, meine war eine ganz andere. Das Einzige, worüber wir sprechen konnten, waren Schlaf und Essen.“

Diese Erfahrung, sagt Andrey, habe ihm eines deutlich gemacht: Wahre Freiheit bedeutet, auch die einfachsten Entscheidungen treffen zu können.

Hausarrest

Nach dem Gefängnis fand sich Andrey unter Hausarrest wieder, was auf den ersten Blick die bessere Alternative zu sein schien. „Ich war erleichtert, endlich allein zu sein“, erinnert er sich an seine ersten Eindrücke. Das Leben im Gefängnis war unerträglich – ständig unter Druck, das Gefühl, niemals durchatmen zu können. Doch in Wirklichkeit war der Hausarrest das Gegenteil von Freiheit.

„Du bist immer noch in einer Box, nur in einem anderen Format. Es istals würde das Leben auf Pause gestellt werden“, sagt Andrey. Die Einschränkungen, die der Hausarrest mit sich bringt, geben ihm nicht das Gefühl, die verlorene Freiheit zurückzugewinnen. Selbst zu Hause habe er sich ständig unter Kontrolle gefühlt. „Du kannst nicht ruhig atmen, immer auf der Hut. Jederzeit kann die Polizei vor der Tür stehen und die Kontrollen können auch ohne Vorwarnung stattfinden.“

Er erinnert sich, wie sogar seine Anwälte anfingen, unangemeldet zu kommen und ihm damit den letzten Rest Kontrolle über sein eigenes Leben nahmen. Schließlich bat er darum, dass die Termine mit Anwälten und anderen Personen im Voraus mitgeteilt werden. „Ich wollte wenigstens ein kleines Stück Normalität zurückgewinnen,“ sagt Andrey.

Er versteht, dass unter diesen Bedingungen ein normales Leben nicht möglich ist. Der Verlust der persönlichen Freiheit und Kontrolle führt dazu, dass man allmählich sogar das Gefühl für sich selbst verliert.

Eine neue Realität nach dem Gefängnis

Nach seiner Freilassung befand sich Andrey in einem Zustand der Ungewissheit und Verwirrung, der ihn bis heute begleitet. „Ich hatte keine Angst und dieses Gefühl ist auch nicht zurückgekehrt. Aber die Angst war immer da beschreibt er seine Empfindungen. Alles um ihn herum erschien ihm fremd und ungewohnt , selbst die Menschen. Für ihn war die Freiheit nichts, worüber er sich freuen konnte. Es war keine Rückkehr in die gewohnte Welt, sondern das Eintauchen in eine neue, fremde Realität.

Selbst alltägliche Dinge wie U-Bahn fahren fielen ihm schwer. „Ich war es gewohnt, nur vertraute Gesichter zu sehen – ja, Mörder, Diebe, Drogenhändler – aber ich wusste, was ich von jedem zu erwarten hatte“, erklärt er. Trotz seiner geselligen Natur fällt es Andrey schwer, sich wieder an das normale Leben zu gewöhnen. In öffentlichen Verkehrsmitteln oder an öffentlichen Orten sucht er nun immer die entlegensten und ruhigsten Ecken auf.

Verfasst von

Kseniia Levadna

Referentin Social Media

Mit 8 Jahren Erfahrung in der Arbeit mit ukrainischen NGOs im Bereich Menschenrechte, Urbanistik sowie in Bildungs-, Kultur-, Sozial- und Kunstprojekten bringt sie umfassende Expertise in Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit mit.

kseniia.levadna@libereco.org