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“Ich konnte kaum glauben, dass ich gerettet wurde”

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind Millionen Menschen geflohen. Die Entscheidung, das eigene Zuhause möglicherweise für immer zu verlassen, fällt den Menschen alles andere als leicht. Selbst dann, wenn das Heimatdorf täglich mit Raketen beschossen wird, wie das Beispiel von Volodymyr zeigt.

Ira Ganzhorn

Ira Ganzhorn

Referentin Humanitäre Hilfe Ukraine

“Ich konnte kaum glauben, dass ich gerettet wurde”

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind Millionen Menschen geflohen. Die Entscheidung, das eigene Zuhause möglicherweise für immer zu verlassen, fällt den Menschen alles andere als leicht. Selbst dann, wenn das Heimatdorf täglich mit Raketen beschossen wird, wie das Beispiel von Volodymyr zeigt.

Ich traf den 70-Jährigen vor einigen Wochen im Hof einer Notunterkunft speziell für Menschen mit Pflegebedarf in Pawlograd (Region Dnipropetrowsk). Die Unterkunft unterstützt Libereco zusammen mit unserer lokalen Partnerorganisation Angels of Salvation.

Für sein Alter ist Volodymyr sehr rüstig. Während des Krieges hat er in seinem Haus immer wieder Geflüchtete beherbergt. „Als vor zwei Jahren die Tragödie ausbrauch, wollte ich helfen“, erinnert er sich im Gespräch. Mit seinen Ersparnissen hatte er sich in Volnovacha ein Haus mit Garten gekauft – ein Lebenstraum. Pflaumen-, Apfel- und Kirschbäume, die Setzlinge hatte er im nahen Bachmut gekauft. „Jetzt wachsen dort 32 Bäume“, sagt Volodymyr stolz.

Doch der Lebenstraum ist jetzt unerreichbar. Als allerletzter Bewohner aus seinem Dorf mitten im Kriegsgebiet wurde er nach Pawlograd evakuiert. Eine russische Rakete hatte zuvor das Nachbarhaus getroffen und seine Nachbarn getötet. Volodymyr überlebte mit einer Gehirnerschütterung und verlor das Zeitgefühl.

„Menschen wohnen hier”, malte er auf seinen Gartenzaun, dazu sein Alter und einen Smiley. Zusätzlich hisste er im Innenhof eine weiße Fahne. Danach wartete er im Keller über eine Woche auf seine Rettung. Nur um Wasser zu holen, verließ er die Gemäuer.

„Ich konnte kaum glauben, dass ich gerettet wurde“, sagt Volodymyr. In Sicherheit bekam er zum ersten Mal seit zehn Tagen eine warme Mahlzeit. Einheimische gaben ihm eine Teller Suppe. Sein Haus in Volnovacha musste er mit nur zwei Taschen verlassen. Zurück blieb alles. Sein Haus. Seinen Garten mit den 32 Obstbäumen. Sein Lebenstraum.

Nun in Sicherheit sucht Volodymyr wieder nach Möglichkeiten zu helfen, trotz der Gehirnerschütterung und der traumatischen Zeit im Keller.

In der Ukraine bin ich vielen Menschen wie Volodymyr begegnet. Ukrainer*innen, die trotz ständiger Gefahr, Beschuss und großer persönlicher Verluste nicht bereit sind, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen. Denn der die emotionale Bindung zu ihrer Heimat und den damit zusammenhängenden Erinnerungen sind zu stark. Für viele ist das Verlassen des Zuhauses nicht nur eine Frage des Überlebens. Es bedeutet zu verlieren: ihre Vergangenheit, ihre Identität und alles, wofür sie im Leben gearbeitet haben.

Dazu kommen finanzielle und tatsächliche Barrieren, die eine Entscheidung zur Evakuierung erschweren. Viele können sich die Reise in sicherere Gebiete oder die Miete für eine neue Unterkunft nicht leisten. Nach einem Leben auf dem Land ist die Unsicherheit groß, an einem unbekannten Ort neu zu beginnen. Für viele ist deshalb Bleiben nicht nur eine Frage des Überlebens – es ist der verzweifelte Versuch, das zu bewahren, was von ihrer Vergangenheit übriggeblieben ist.

Verfasst von

Ira Ganzhorn

Referentin Humanitäre Hilfe Ukraine

Ira Ganzhorn ist Referentin Humanitäre Hilfe bei Libereco – und ihr Start war alles andere als gewöhnlich: Ihr Vorstellungsgespräch fiel auf den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Vollinvasion. Geboren in Charkiw, war sie zuvor an den EU-Außengrenzen und in der politischen Bildung aktiv.

ira.ganzhorn@libereco.org