Libereco Logo
Libereco Logo
Jetzt spenden
Blog

Wenn die Raketen an Weihnachten kommen

Seit dem Mittag sitzen wir in Charkiw zusammen. Meine Großtante Valentina, ihr Ehemann Boris und ihr Sohn Jurii, mein Cousin. Wir sitzen in ihrer Zweizimmerwohnung, im Stadtteil Saltiwka.

Ira Ganzhorn

Ira Ganzhorn

Referentin Humanitäre Hilfe Ukraine

Wenn die Raketen an Weihnachten kommen

Seit dem Mittag sitzen wir in Charkiw zusammen. Meine Großtante Valentina, ihr Ehemann Boris und ihr Sohn Jurii, mein Cousin. Wir sitzen in ihrer Zweizimmerwohnung, im Stadtteil Saltiwka.

Seit über 30 Jahren wohnen Valentina und Boris schon hier. Als frisch verheiratetes Ehepaar sind sie in die Wohnung gezogen, haben sich eingerichtet, ihr Leben aufgebaut. Zwei Kinder bekommen. Karriere gemacht. Sich zur Ruhe gesetzt. Ihr ganzes Leben steckt in dieser Wohnung, Erinnerungen von weit über 60 gemeinsamen Jahren wabern zwischen den Wänden.

Auf dem Esszimmertisch liegen Fotoalben, sorgfältig nach Jahrzehnten sortiert. In den zurückliegenden Stunden haben mich Valentina und Boris durch die Vergangenheit geführt, Anekdoten wiedergegeben. Sechs Jahrzehnte im Schnelldurchlauf, in einem Zeitraffer, extra für mich.

Aus einem Meer von Erinnerungen, in das wir gerne eingetaucht sind, holt uns plötzlich ein Stromausfall zurück in die Realität. Wir befinden uns auf einmal nicht mehr auf der sommerlichen Datscha von Valentina und Boris, umgeben von Obstbäumen, sondern wir sind mitten im Krieg, keine 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Und die Raketen könnten jederzeit das Wohnzimmer treffen.

Den Luftangriffen gehen oft Stromausfälle voraus, erklärt Boris. Seit dem 24. Februar 2022 leben sie unter konstantem Beschuss. Viel Zeit, sich mit den Spielregeln des Terrors vertraut zu machen.

“Es ist, als könnte ich die Angriffe in meinen Knochen spüren”, sagt mein Großonkel. Als ob sich das Nervensystem darauf eingestellt hätte und frühzeitig warnt. Kaum beendet er seine Ausführungen, ertönt in nicht allzu weiter Entfernung die erste Explosion. Ein Geräusch, das ich nicht beschreiben kann, aber immer und überall wiedererkennen werde. Wenige Sekunden später ertönt der Luftalarm, zusammen mit dem nächsten Einschlag – schon deutlich näher.

Galerie

0 / 0
Processed with VSCO with a5 preset

Der Luftalarm geht nicht rechtzeitig los. Zu nah ist die Grenze, zu schnell die Raketen. Das Militär sagt, die Geschosse brauchen nur 30 Sekunden, um von der Grenze in unseren Stadtteil zu fliegen. Kein Flugabwehrsystem der Welt kann hier noch helfen. Der nächste Einschlag kommt, die Fensterscheiben zittern. Wir schätzen die Entfernung: Vielleicht noch 500 Meter liegen zwischen uns und den Raketen an diesem Weihnachtsfeiertag.

Mein Großonkel Boris schenkt mir einen Schluck Cognac nach. “Wenn sie uns treffen, dann sterben wir wenigstens zusammen”, sagt er. Wir stoßen an und wissen gar nicht auf was genau. Auf unser Wiedersehen, auf das Ende des Krieges oder auf die Tatsache, dass wir heute wenigstens zusammen sterben würden?

Ein weiterer Schluck Cognac, eine weitere Explosion. Die Raketen sind zu schnell und der nächste Luftschutzkeller zu weit weg. Meine Großtante und mein Großonkel sind 86 Jahre alt, an ein schnelles Hinabsteigen aus dem fünften Stock ist nicht zu denken. An ein Hinabsteigen ohne sie auch nicht.

Was sich wie eine Ewigkeit anfühlt sind in Wahrheit nicht einmal zwei Minuten. Fünf Explosionen, ein Glas Cognac. “Unsere neue Zeitrechnung”, scherzen wir. Meine Großtante wischt sich eine Träne weg. “Du bist doch noch so jung, das ganze Leben sollte noch vor dir sein.” Sie ist wütend, sie möchte nicht, dass ich mein Leben für das ihre riskiere. Auch ich bin wütend, weil ich vor diese unmögliche Wahl gestellt werde und doch schon längst gewählt habe.

Ein Schluck Cognac darauf, dass wir heute nicht von einer Rakete getroffen wurden.

Ein Schluck Cognac darauf, dass wenn doch, wir wenigstens zusammen gestorben wären.

Verfasst von

Ira Ganzhorn

Referentin Humanitäre Hilfe Ukraine

Ira Ganzhorn ist Referentin Humanitäre Hilfe bei Libereco – und ihr Start war alles andere als gewöhnlich: Ihr Vorstellungsgespräch fiel auf den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Vollinvasion. Geboren in Charkiw, war sie zuvor an den EU-Außengrenzen und in der politischen Bildung aktiv.

ira.ganzhorn@libereco.org